Bärndütsch und Hrvatski
Sie ist in Bern geboren und aufgewachsen und spricht lupenreines Bärndütsch. Doch zu Hause wurde Kroatisch (Hrvatski) gesprochen, weshalb ihr diese Sprache ebenso mühelos über die Lippen kommt wie der Berner Dialekt. Auf meine Frage, ob sie sich je nach Sprache verändere, antwortet die Anästhesistin:
«Natürlich bin ich nach wie vor dieselbe Person, trotzdem macht das etwas mit mir. Ich würde mal sagen: Wenn ich Kroatisch spreche, ‹mutiere› ich von der Schweizerin zur Südländerin. Das wirkt sich auf die Stimmlage und die Sprachmelodie aus, Lautstärke und Gestik nehmen zu. Berndeutsch ist meine Alltags- und Berufssprache, steht eher für Ruhe und Besonnenheit, das Kroatische ist dagegen die Sprache der Emotion und des Temperaments. So etwa switche ich, wenn ich wütend bin, automatisch ins Kroatische. Witzig ist, dass ich im Dialekt anders träume, als wenn ich es in meiner anderen Muttersprache tue.»
Vom Loch Ness an den Zürisee
Die nächste Interviewpartnerin ist eine gebürtige Schottin, die seit vielen Jahren in der Schweiz lebt. Als sie noch ein Kind war, ist die Familie nach Deutschland gezogen, weshalb sie zweisprachig aufgewachsen ist. Später hat sie mehrere Jahre in London verbracht. Neben Englisch und Deutsch spricht die ehemalige Geschäftsfrau auch Französisch, Russisch und Mandarin. Auf meine Frage, wie das sei, wenn sie von einer Sprache in die andere switche, antwortet sie:
«Jede Sprache ist wie ein neuer Mantel, den ich mir umhänge. Dann passiert etwas Wunderbares: Je nach Sprache sehe ich völlig andere Bilder vor mir. Überdies passe ich mich der Kultur des jeweiligen Landes an und formuliere gleiche Inhalte anders. Obwohl ich viel länger in der Schweiz lebe als ich je auf der Insel gelebt habe, kann mein ‹englisches Ich› Dinge präziser benennen. Ja, es ist schon so: Wenn ich Englisch spreche, bin ich anders, als wenn ich mich im Dialekt oder auf Deutsch unterhalte. Ganz zu schweigen vom Mandarin. In dieser Sprache ist meine Wandlung noch stärker ausgeprägt. Allerdings würde ich mich bei alledem nicht als gespaltene Persönlichkeit bezeichnen», ergänzt sie lachend.
Sprachlicher Tausendsassa
Auf YouTube habe ich ein älteres Video von Luca Lampariello gefunden. Damals beherrschte er Italienisch, Englisch, Spanisch, Französisch, Deutsch, Niederländisch, Schwedisch, Russisch, Portugiesisch, Polnisch, Chinesisch und Japanisch – allerdings dürfte er inzwischen über ein noch breiteres Sprachrepertoire verfügen. Ja, es komme immer wieder vor, sagt der gebürtige Italiener, dass ihn Leute fragen, ob er mit der Sprache jeweils auch die Persönlichkeit wechsle. Dazu könne er Folgendes sagen:
Es sei nicht so, dass er zu einer anderen Person werde, vielmehr befinde er sich in einer anderen Realität. Weil sein Gehirn mit dieser anderen Realität konsistent sei, reagiere er nicht verwirrt. Die Aussprache und die Art zu reden seien dann ein anderer Teil seiner Identität. Aber, so räumt er ein, man könne schon sagen, dass er jeweils eine andere Persönlichkeit annehme.
Die innere Mehrsprachigkeit
Wenn wir an multilinguale Menschen denken, dann meist an solche, die mit zwei Muttersprachen aufgewachsen sind: Deutsch und Türkisch, Englisch und Französisch, Schwedisch und Arabisch. Doch es gibt auch eine «innere Mehrsprachigkeit». Dieser Begriff wurde vom österreichischen Sprachwissenschaftler Mario Wandruszka (1911 bis 2004) geprägt. Innere Mehrsprachigkeit bedeutet, dass jemand verschiedene Idiome innerhalb einer Sprache beherrscht. Weil für den Schweizer Dialekt keine geschriebene Sprache existiert, lernen wir spätestens ab Beginn der ersten Klasse Schriftdeutsch. Deshalb verstehen und sprechen wir neben der Mundart eben auch Hochdeutsch, wobei unser Deutsch meist stark vom Dialekt gefärbt ist. Weshalb reagieren wir dann auf Menschen, die aus unserem nördlichen Nachbarland zu uns kommen und akzentfreies Deutsch sprechen, oft so ablehnend?
Deutsch und Deutsch ist nicht immer dasselbe
Mit Öffnung des Schengenraumes sind zahlreiche Deutsche aus dem grossen Kanton in die Schweiz gezogen. Nicht selten stossen sie mit ihrer Art an, weshalb viele unserem Land enttäuscht den Rücken kehren. Sie verstehen nicht, warum ihre Art und Sprechweise als arrogant und hochgestochen wahrgenommen wird.
Ich wollte erfahren, weshalb es bei den einen mit der schweizerisch-deutschen Freundschaft nicht funktioniert, während andere in der Schweiz glücklich geworden sind. Aus diesem Grund habe ich das Thema mit mehreren Deutschen diskutiert. Die Antwort eines Informatikers aus dem Raum Niedersachsen steht stellvertretend für weitere, ähnliche Antworten. Er sagt dazu:
«Ich verstand, dass ich die Sprache und meine Art den hiesigen Gegebenheiten anpassen muss. So lernte ich die Helvetismen und näherte mein als überheblich empfundenes Deutsch in Ton, Stil und Tempo dem Schweizer Dialekt an. Dazu habe ich die Lautstärke gedrosselt, bin weniger ‹zackzack›, die Tonlage ist sanfter, die Wortwahl freundlicher geworden. Man könnte gleichwohl sagen, dass ich in der Schweiz einen völlig anderen Ton anschlage als in Deutschland. Wenn ich es mir so überlege, habe ich neben meiner deutschen auch eine schweizerische Persönlichkeit entwickelt. Hier trage ich das rot-weisse Trikot, und wenn ich nach Deutschland fahre, ziehe ich Schwarz-Rot-Gold über.»
Die Persönlichkeit einer Sprache spüren
Dieses letzte Beispiel macht deutlich, wie wichtig es ist, dass man nicht nur das Vokabular und die Grammatik beherrscht, sondern auch seine Persönlichkeit je nach Sprache wechselt. Das gilt für völlig unterschiedliche Sprachen ebenso wie für ein Idiom. Nur wer über diese Fähigkeit verfügt, spricht eine Sprache so, dass sie der jeweiligen Kultur gerecht wird.
Ob man bei diesem Vorgang von einem Wechsel der Persönlichkeit, der Mentalität oder der Art redet, ist egal. Bei guten Übersetzerinnen und Übersetzern findet diese «Transformation» stets statt. Denn eine Sprache beherrscht man erst dann, wenn man sie auch spürt. Fachspezifische Expertise ist die Grundvoraussetzung für jede Übersetzungsarbeit. Wer sich jedoch nicht in die jeweilige Kultur hineinversetzen kann, wird nie einen authentischen Text zustande bringen. Hier liegt der Unterschied zwischen einer maschinellen und einer menschlichen Übersetzung. Emotion, das Gespür für die Zielgruppe, die Tonalität und den Stil gehen der Maschine ab. Bei menschlichen Regungen wie Humor und Kreativität überhitzen die KI-Rädchen und liefern Belustigendes statt Witziges und Eigentümliches statt Geistreiches. Nicht umsonst heisst es künstliche Intelligenz. Und alles, was künstlich ist, kann nie echt sein. Würde man von der Maschine verlangen, dass sie bei jeder Sprache die Persönlichkeit wechselt, würde sie nur fragen: Welche Persönlichkeit?